Praxis Dr. med. Dr. paed. Dietger Heitele
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1. Im typischen Fall stammen Sie aus einem gestörten Elternhaus, in dem Ihren emotionalen Bedürfnissen nicht entsprochen wurde. Die Bedeutung dieses Satzes lässt sich wohl am einfachsten erschließen, wenn wir uns zunächst seiner zweiten Hälfte zuwenden: «... in dem Ihren emotionalen Bedürfnissen nicht entsprochen wurde. » Dabei sind mit «emotionalen Bedürfnissen» nicht nur die nach Liebe und Zuwendung gemeint. Noch schwerwiegender als diese wichtigen Aspekte ist es, dass Ihre Wahrnehmungen und Gefühle weitgehend unbeachtet blieben oder sogar verleugnet wurden, statt anerkannt und bestätigt zu werden. Hierzu ein Beispiel: Die Eltern streiten sich. Das Kind verspürt Angst und fragt die Mutter: «Warum bist du so böse auf Papa?» Die Mutter antwortet: «Ich bin doch gar nicht böse», sieht dabei aber wütend und erregt aus. Das Kind spürt Verwirrung und noch mehr Angst und sagt: «Ich habe dich aber schimpfen hören. » Die Mutter erwidert aufgebracht: «Noch einmal: Ich bin nicht böse, aber das wird sich gleich ändern, wenn du so weitermachst.» Das Kind erlebt jetzt Gefühle von Angst, Verwirrung, Ärger und Schuld. Die Mutter hat damit indirekt zu verstehen gegeben, daß die Wahrnehmung des Kindes nicht korrekt ist, aber wenn das stimmt, woher kommen dann die Angstgefühle? Nun muß das Kind eine Entscheidung treffen: zwischen dem Wissen, daß es recht hat und von seiner Mutter absichtlich belogen wurde, und dem Glauben, daß es mit dem, was es hört, sieht und fühlt, im Unrecht ist. Häufig bleibt dem Kind damit nichts als Verwirrung. Es muß seine Wahrnehmungen «abschalten», um nicht in die unangenehme Lage zu kommen, daß sie ihm im nachhinein abgesprochen werden. Dies beeinträchtigt die Fähigkeit des Kindes und späteren Erwachsenen, sich und seinen Wahrnehmungen zu trauen - vor allem in engen Beziehungen. Vielleicht wird auch dem Bedürfnis nach Zuwendung überhaupt nicht oder nur unzureichend entsprochen. Wenn Eltern miteinander streiten oder in andere Formen der Auseinandersetzung -verstrickt sind, bleibt oft wenig Zeit oder Aufmerksamkeit für die Kinder in der Familie übrig. Infolgedessen verzehrt sich das Kind nach Liebe, ohne dabei zu wissen, wie es ihr trauen und sie akzeptieren soll. Zugleich hat es das Gefühl, diese Liebe nicht zu verdienen. Nun komme ich zum ersten Teil des Satzes. Ein Elternhaus ist dann gestört, wenn mindestens einer der folgenden Punkte zutrifft: · Mißbrauch von Alkohol und/ oder anderen Drogen (legale wie zum Beispiel Medikamente oder illegale) · Zwangsverhalten wie zwanghaftes Essen, Arbeiten, Putzen, Spielen (um Geld), Einkaufen, zwanghafte Durchführung von Diäten oder sportlichen Übungen und so weiter. Bei diesen Beispielen handelt es sich sowohl um Suchtverhalten als auch um eine Krankheit mit fortschreitender Tendenz, deren schädliche Wirkung unter anderem darin besteht, daß sie aufrichtige Bindungen und wirkliche Intimität in einer Familie zerstört oder von vornherein verhindert. · körperliche Gewalt gegen Ehepartner und/ oder Kinder · unangemessenes Sexualverhalten eines Elternteils dem Kind gegenüber, das von verführerischem Auftreten bis zum Inzest reichen kann · ständiges Streiten und ständige Spannung · länger andauernde Perioden, in denen die Eltern sich weigern, miteinander zu sprechen · Eltern, deren Ansichten oder Wertvorstellungen äußerst gegensätzlich sind oder die sich mit einander widersprechenden Verhaltensweisen der Loyalität ihrer Kinder versichern wollen. · Eltern, die miteinander oder mit ihren Kindern konkurrieren · ein Elternteil, der keine echte Beziehung zu anderen Familienmitgliedern herstellen kann, ihnen deshalb bewußt aus dem Weg geht, sie dabei aber für sein eigenes Verhalten verantwortlich macht · extrem starre Festlegungen in bezug auf Geld, Religion, Arbeit, Zeiteinteilung, Äußerungen von Zuneigung, Sexualität, Freizeit, Hausarbeiten, Sport, Politik und so weiter. Solche rigiden Fixierungen können Aufrichtigkeit und Intimität verhindern, da der Schwerpunkt nicht auf den Beziehungen untereinander liegt, sondern auf dem Befolgen von Regeln. Ist ein Elternteil auf eine oder mehrere der hier aufgeführten Verhaltensweisen oder Vorstellungen fixiert, erleidet das Kind Schaden. Sind beide Elternteile daran beteiligt, kann dies sogar noch schwerwiegendere Folgen haben. Oftmals weisen Eltern krankmachende Verhaltensformen auf, die sich gegenseitig ergänzen. Alkoholiker beispielsweise gehen häufig die Ehe mit jemandem ein, der zwanghaft essen muß. jeder der beiden Partner kämpft dann darum, die Sucht des anderen zu kontrollieren. Oft halten sich die verschiedenen schädlichen Eigenschaften der Eltern gleichsam die Waage: Wenn die Mutter Fürsorglichkeit auf geradezu erdrückende Weise zeigt und der Vater ein sehr erregbarer, abweisender Mensch ist, dann macht das Verhalten des einen es dem anderen jeweils möglich, den eigenen schädlichen Einfluß auf die Kinder weiterhin auszuüben. Dysfunktionale Familien existieren in allen denkbaren Variationen, aber sie alle haben etwas gemeinsam. Die Kinder, die in ihnen aufwachsen, sind in unterschiedlichem Ausmaß gefühls- und beziehungsmäßig behindert. Aus Norwood, Robin
Wenn Frauen zu sehr lieben, Rowohlt Verlag 1986 |